
Les contes d`Hoffmann – Jacques Offenbach
– Saisonstart 2021/22: Vom Bühnenspektakel und einem Tenorereignis –
von Patrik Klein
Die Staatsoper Hamburg startete 2019 mit Schostakowitschs Die Nase in die damals letzte Saison vor der Pandemie und eröffnete dann während dieser entbehrungsreichen Zeit die Saison 2020 mit Castorfs Molto Agitato. Damit irritierte man viele Zuschauer, die sich wohl in beiden Fällen etwas “populäreres” gewünscht hätten. In der aktuellen Pandemiesituation, die wieder etwas mehr Normalität und ein gut halb besetzbares Haus zuließ, nun im dritten Anlauf eine Art Wiedergutmachung: Auswahl eines zugänglicheren und bekannteren Werkes mit breiter Publikumsrelevanz, Verpflichtung eines Regieteams, welches für optisches Vergnügen steht und eine Besetzungsliste, die aufhorchen ließ.
Das wären eigentlich die besten Voraussetzungen für einen triumphalen Erfolg gewesen. Das Premierenpublikum bedankte sich dann auch nach knapp vier Stunden mit höflichem, zum Teil auch stürmischem Applaus, aber so richtige Begeisterung oder gar euphorische Jubelstimmung, die ein Opernhaus in der ersten Reihe der Tophäuser des Landes zu erzeugen in der Lage gewesen wäre, blieb überraschenderweise aus.
Daniele Finzi Pasca ist Mitbegründer der Compagnia Finzi Pasca. Er ist Autor, Regisseur, Choreograph, Lichtdesigner und Schauspieler. Drei Welten sind ihm gleichzeitig heilig: die Bühnenregie, der darstellenden Kunst und die Clownerie. Man bezeichnet ihn gerne als ein Magier, ja ein Zauberer, der u.a. bereits den Cirque du Soleil mit der Show Corteo erweiterte und die Abschlussfeiern der Olympiaden in Turin (2006) bzw. Sotschi (2014) inszenierte. Er und sein Team (Regie-Mitarbeit: Mellissa Vettore, Bühnenbild: Hugo Gargiulo, Bühnenbild-Mitarbeit: Matteo Verlicchi, Kostüme: Giovanna Buzzi, Kostüm-Mitarbeit: Ambra Schumacher, Licht: Daniele Finzi Pasca und Marzio Picchetti, Video: Roberto Vitalini, Choreografie: Maria Bonzanigo) tauchten die Oper und mit ihr die angetanen Zuschauer*innen der Premiere in ein Universum der Träume mit faszinierenden, farbenreichen Bildern und Choreografien. Auf die vielfältigen Möglichkeiten, tiefgründiger in Charaktere und Deutungen einzutauchen, verzichtete er jedoch bewusst.
Les contes d’Hoffmann ist eine fantastische Oper in 5 Akten von Jacques Offenbach. Als Basis für das Libretto diente ein von Jules Barbier und Michel Carré verfasstes und 1851 uraufgeführtes Stück, das auf verschiedenen Erzählungen E.T.A. Hoffmanns basierte. Aus diesem Schauspiel entwickelte Jules Barbier auf Wunsch Jacques Offenbachs das Opernlibretto. Hoffmann ist in der Oper selbst der Held der Erzählungen – im Gegensatz zu den literarischen Werken Hoffmanns, in denen die männlichen Helden andere Namen tragen oder fiktive Ich-Erzähler sind.
Les contes d’Hoffmann wurde am 10. Februar 1881 in der Opéra-Comique Paris uraufgeführt. Die deutsche Erstaufführung war 1882 in Hamburg. Der Komponist starb über dem Werk, ohne die Uraufführung zu erleben, die in stark gekürzter Form stattfand. Seitdem ist die Aufführungsgeschichte selbst ein aufregendes Kriminalstück, überraschende Funde ließen Hoffmanns Erzählungen immer wieder in neuem, faszinierendem Licht erscheinen.

Der Dichter E. T. A. Hoffmann als Protagonist seiner eigenen fantastischen Erzählungen: In der Begegnung mit drei Frauen – Olympia, Antonia und Giulietta – suchte er vergeblich nach Liebe und nach sich selbst. Regisseur Daniel Finzi Pasca verzichtete bewusst in seiner szenischen Darstellung auf die “Faustschen” Aspekte des düsteren Stoffes der Oper. Stattdessen schuf er mit poetischen und fantasievollen raumfüllenden Szenen, farbenfrohen Bühnenbildern, besonderen Lichtverhältnissen, fliegenden Puppen, ja sogar Menschen, Doubles der Protagonisten, eine Traumwelt mit surrealen und realistischen Ebenen.
Alle fünf Bilder der Oper spielten in zwei Ebenen. Als Relikt aus Lutters Weinkeller befanden sich an den beiden Bühnenportalen je ein kleiner Tisch mit einigen Stühlen, auf denen die Protagonisten miteinander interagierten und die Geschehnisse im Hintergrund betrachteten oder kommentierten. Lutters Weinkeller wurde skizziert mit einem überdimensionalen Tresen mit verspiegelter Flaschensammlung und Videowand, auf der zunächst Hoffmanns Muse und spätere Begleiterin Niklaus samt Double und später die Sängerin Stella erschienen. Als Hoffmann von den fröhlichen Gästen aufgefordert wurde die Legende vom Zwerg Kleinzack vorzutragen, schwebte eine lebendige Puppe auf den Tresen und begann marionettenartig Hoffmann zu begleiten. Die hässlichen Züge des Zwerges und die lieblichen Züge des Gesichtes von Stella mischten sich. Hoffmann begann den begeistert zuhörenden Studenten seine drei großen Liebesgeschichten zu erzählen.
Der zweiten Akt überraschte mit überdimensionaler Spieldose und einem Chor aus Krankenschwestern und Pflegern. Vor tiefblauem Hintergrundprospekt spielte die Geschichte um die vom Physiker Spalanzani konstruierte Puppe Olympia zunächst mit geöffneter Spieldose, die den Blick ins technisch komplexe Innere freigab. Olympias Vortrag folgte hübsch anzusehen bei aufgezogener und geöffneter Spieldose, wo sie dann später von Brillenmacher Coppélius zertrümmert wurde.

Der Antonia-Akt spielte in und um eine rotierende und halb geöffnete museale Schmetterlingssammlung. Der riesige Zylinder in Bühnenmitte mit aufgesteckten Schmetterlingspräparaten war dann auch das ideale Ausstattungsmerkmal für die Geschichte der schwindsüchtigen Sängerin in blassblauem Kleid mit überdimensionalen Flügeln. Zum Ende und Tod Antonias erschien die Mutter mit riesigen von zwei Statisten bewegten flatternden Schmetterlingsflügeln, während Frantz auf einer Violine mit kaputten Saiten dem verzweifelten Hoffmann beiseite stand.

Im Giulietta–Akt wurden alle Register eines Ausstattungstheaters gezogen. Unter Szenenbeifall des Publikums drehte sich die Hauptbühne, auf der eine Reihe von Venedigs Kunstskulpturen auf einer barocken Sonnenuhr angebracht war. Ein riesiger, schräg angeordneter Spiegel gab zusätzlich den Blick von oben auf die anschließenden Szenen frei, die zudem ganz nach Bekanntem aus dem Cirque du Soleil choreografiert waren. Nachdem der erneut enttäuscht zurückgelassene Hoffmann von seinem getreuen Niklaus fortgeführt wurde, wandelte sich die Bühne wieder in Lutters Weinkeller zum letzten Bild. Im Nachspiel war die Zeit, zu der Hoffmann der Einladung Stellas hätte folgen sollen, längst verstrichen. Alle wirkten erschüttert. In seinem Rausch sang Hoffmann noch eine wilde letzte Strophe des Liedes von Kleinzack, bevor er in besinnungsloser Trunkenheit zusammensank. Aufwändig mit einschwebenden Körpern und finalem Chor der Solisten inszeniert, verwandelte sich Niklaus wieder in die Muse.

Musikalischer Höhepunkt an diesem Eröffnungspremierenabend war gewiss der Titelheld. Der französische Tenor Benjamin Bernheim in der Rolle des Hoffmann, der sich in jüngster Zeit mit seinen Interpretationen von großen Tenorpartien des romantischen Repertoires bei Publikum und Presse empfahl, heute hier in Hamburg sowohl am Haus als auch in der Rolle debütierte, zeigte bereits in seiner ersten Arie gesangliche und darstellerische Klasse. Mit kontrollierter Gesangstechnik gelang es ihm, die dramatischen als auch die jungen und frischen Farben in seiner lyrischen Stimme zu fokussieren. Die lange und äußerst fordernde Rolle hielt er auch im Laufe des Abends auf allerhöchstem Niveau. Er erhielt zu Recht den stärksten Applaus vom Publikum.
Olympia, Antonia, Stella und Giulietta wurden von der in St. Petersburg geborenen Olga Peretyatko gesungen, eine der international gefragtesten Koloratur-Sopranistinnen weltweit. Die heute an allen großen Bühnen engagierte Sängerin begann ihre Karriere einst in Hamburg als Mitglied im Opernstudio. Regelmäßig kommt sie als Gast an das Haus am Dammtor zurück. Sie sang zu Beginn die Arie “Phöbus stolz im Sonnenwagen” ein wenig kühl, aber voller Virtuosität scheinbar mühelos und mit atemberaubenden Koloraturen. Zu dem traf sie auch mit einer kräftig gewachsenen Mittellage scharf wie ein Schwert in das Gehör der Zuhörer. Die musikalisch schwierigen Verwandlungen in die beiden anderen Geliebten Hoffmanns gelangen ihr vorzüglich. Auch sie wurde vom Publikum frenetisch gefeiert.
Lindorf, Coppélius, Dr. Miracle und Dapertutto wurden vom italienischen Bass-Bariton Luca Pisaroni präsentiert. Der international gefragte Sänger in der Rolle der vier Bösewichte punktete mit seiner tief sitzenden Stimme, die besonders im unteren Bereich des Registers wohlklingende und farbenreiche Klänge zu Gehör brachte, aber für die Rolle der Bösewichte doch einiges an Schwärze missen ließ. In der Mitte und in den Höhen hatte er zudem häufig Mühe, seine Stimme zu kontrollieren und gesanglich zu gestalten. Dadurch litt die Darstellung des Bösewicht doch erheblich.
Die amerikanische Mezzosopranistin Angela Brower war in der Rolle La Muse und Nicklaus zu hören und zu erleben. Als ehemaliges Mitglied des Opernstudios an der Bayerischen Staatsoper in München ließ sie ihr samtiges, wenig dunkles Timbre mit leuchtend lyrischer Stimme, mehr Sopran als Mezzo, und wohlgefälligen sauberen Spitzentönen zur Geltung kommen.
Der aus Hamburg stammende Tenor Gideon Poppe, mittlerweile Ensemblemitglied an der Deutschen Oper Berlin, verkörperte Andrès, Cochenille, Frantz und Pitichinaccio mit großem Spielwitz und variabel geführter schlanker Tenorstimme. Der österreichische Bass Martin Summer verkörperte Maître Luther und Crespel mit dunklem Fundament und einer sauber gestaltenden Stimmführung. Der Augsburger Tenor und Kammersänger an der Staatsoper Hamburg Jürgen Sacher sang den Spalanzani im zweiten Bild mit angemessen witziger metallisch glänzender Stimme. Ganz besonders zu erwähnen verbliebe noch die aus Krefeld stammende Mezzosopranistin Kristina Stanek, die als La Mère Antonias zwar nur eine sehr kurze Gesangspassage inne hatte, diese aber mit warmem und dunkelstem Timbre zum Teil an Seilen schwebend zum Besten gab. Nathanaël wurde vom südkoreanischen Tenor und Stipendiat der Daegu Opera House Foundation Dongwon Kang gesungen und gespielt. Die Studenten Wilhelm und Wolfram wurden verkörpert vom jungen Nachwuchstenor aus Hamburg und künftigen Ensemblemitglied des Theaters Vorpommern Daniel Schliewa. Komplettiert wurde das Ensemble durch den südkoreanischen Bass Han Kim als Le Capitaine des Sbirres und den deutschen Bariton Bernhard Hansky als Schlémil und Hermann.

Der Chor der Staatsoper Hamburg unter der Leitung von Eberhard Friedrich hatte es am Premierenabend nicht leicht. Pandemiebedingt durfte der komplette Chor nicht auf der Bühne agieren und musste gedrittelt werden. Gemischte Gruppen aus Damen und Herren agierten und sangen auf der Bühne oder sangen aus den oberen Logen an beiden Seiten des Zuschauerraumes. Zusätzlich zur an sich problematischen Akustik des Hauses kamen nun auch zum Teil erhebliche Abstimmungsprobleme hinzu. Mittig im Parkett sitzend waren die millisekundenlangen uneinheitlichen Einsätze der Teilchöre trotz einiger Zusatzmonitore nicht zu überhören. Vielleicht hätte man sich hier an der Lösung des Problems bei den diesjährigen Bayreuther Festspielen orientieren können, die den gesungenen Part des Chores aus dem Chorsaal auf die Bühne übertrugen. Eberhard Friedrich hätte in seiner Doppelrolle als Berater fungieren können.
Die musikalische Leitung hatte Hamburgs Generalmusikdirektor Kent Nagano, der zu sehr auf Sicherheit und Zusammenhalt des hochkomplexen musikalischen Gebildes zielte. Temporeiches, dynamisches, spannungsgeladenes musizieren, oder das Erzeugen aufregend neuer Klänge waren absolute Mangelware. Der Gesamteindruck war häufig blutleer. Die Sänger*innen schienen zu wenig Unterstützung zu genießen, zumal sie häufig in der bekannt schlechten Akustik bei komplett leerer und offener Bühne sangen. Zudem hörte man aus dem Graben, in dem viele sehr gute Einzelmusiker saßen, etliche Patzer und unsaubere Einsätze vor allem aus dem Bereich der Blechbläser. Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg hatte keinen starken Abend.
Trotz der aufgeführten Widrigkeiten beim Chor und Orchester geriet mit Les contes d´Hoffmann insgesamt ein sehr unterhaltsamer Abend.
Les contes d´Hoffmannan der Staatsoper Hamburg; weitere Termine: 7.9., 10.9., 16.9., 19.9., 22.9., 25.9.2021
—| IOCO Kritik Staatsoper Hamburg |—