Aktuell

Neujahrs-Tradition frisst Wiener Philharmoniker
Seit 1941 besteht das Neujahrs – Konzert der Wiener Philharmoniker im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins. In 70 Länder wird es übertragen, 50 Millionen sind live dabei. Das Programm besteht überwiegend aus Werken von Johann Strauss (Vater und Sohn), Eduard und Josef Strauss. Im Ausland weniger bekannte Komponisten ergänzen ein Programm, dessen Charme inzwischen unter seiner zwängenden Ritualisierung dramatisch schmilzt. Das Jahrzente alte Strauss-Konzert verursacht nur noch wenig Gänsehaut-Feeling. Die Zugaben: Immer dieselben; dritte und letzte Zugabe: Radetzkymarsch. Tobender Beifall!! Aus.

Das Neujahrs – Konzert 2011 bestand aus Frühwerken von Johann Strauss, solche aus der Operette Simplicius mit Klassikern gemischt. Dazu eine Hommage an Franz Liszt (200. Geburtstag), Stücke von Strauß Vater, Joseph und Eduard Strauss sowie Hellmesberger d. J.. Semper idem: Auch wenn Reitermarsch, Donauweibchen, Abschiedsrufe schön gespielte Stücke waren: Auffällig, mitreißend oder gar ergreifend wirkte das Programm 2011 wahrlich nicht.
Die Dirigenten der Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker sind ohne Altersbeschränkung männlich: Georg Pretre dirigierte mit 86 Jahren schwächlich und glanzlos die Neujahrskonzerte 2008 und 2010. Frauen im Ensemble der Wiener Philharmoniker waren bis 1997 verboten. Inzwische hübschen sieben Damen das 140 Mann starke Ensemble auf. Bei Auftritten gilt für Frauen Hosenzwang. Trotz Aufhebung des Frauenverbots: Den traditionsbewußten wahren Wiener treiben weiterhin ernste Zweifel, ob musizierende Damen ihren männlichen Partnern wirklich ebenbürtig sein können.

Dirigent des Neujahrs – Konzertes 2011 war Franz Welser-Möst, neu gekürter Generalmusikdirektor der Wiener Staatsoper. Der wußte augenscheinlich zu schätzen, daß die hochklassigen Wiener Philharmoniker das nicht anspruchsvolle Programm auch ohne Dirigent gut “abspulen” können. Er hielt sich mit gestaltenden Eingriffen zurück, produzierte nur wenig Kraft. Die ZEIT beschrieb Welser-Möst 2009 als Anti-Charismatiker. Er selbst warnte ebenfalls “Ich neige nicht dazu, ein großes Zirkuspferd zu sein”. Der Neujahrsmorgen 2011: Ein Durchschnittsprogramm der Wiener Philharmoniker mit wenig emotionalem Tiefgang, höchster Präzision, mathematisch asketisch präsentiert. Dazu ein unterfordert wirkender Dirigent, scheinbar gelangweilt, den Glanz des Anlasses sichtbar konterkarierend. Symptomatisch für das peinlich wirkende Dirigat war die Polka Ohne Aufenthalt: Franz Welser-Möst mit Eisenbahner-Signalkelle in der Hand erinnerte tatsächlich an einen Bahnhofsvorsteher. Ein Neujahrs-Esprit schaffender Dirigent ist freilich aus anderem Stoff gemacht
Enttäuscht flüchteten wir am Abend des 1. Januar 2011 in das architektonisch fast ebenbürtige, 1913 erbaute Wiener Konzerthaus: Und genossen dort die andere Wiener Tradition: Beethovens Neunte Symphonie mit den Wiener Symphonikern. Unter der Leitung des kurzfristig eingesprungenen Dirigenten Graeme Jenkins. Zahlreiche Ausfälle und Umbesetzungen hatten dies ungleich anspruchsvollere Konzert zu einem heiklen va banque-Spiel gemacht. Welches weitgehend gelang. IOCO / Viktor Jarosch / 04.01.2011